Jüdische Gemeinde Groß-Dortmund, 12. April 2018
Meine Damen und Herren,
Erst vor wenigen Wochen habe ich das Buch Geschichte eines Deutschen von Sebastian Haffner gelesen. Viel zu spät. Haffner hat seine Erinnerungen an die Jahre 1914-1933 schon 1939 aufgeschrieben, als Buch wurden sie erst Anfang dieses Jahrhunderts veröffentlicht. Dennoch war ich, so spüre ich nun, zu spät. Über die Shoah und das Nazitum hatte ich schon vieles gelesen. Haffners Erinnerungen aber sind das erste Buch, das mich auf erschütternde Weise einfühlen lässt, was mein Großvater und Vater in diesen 20 Jahren in Dortmund erfahren und durchlebt haben. Und Sebastian Haffner war kein Jude – aber ein guter, ein sehr guter Deutscher. Er war zweifellos, wie wir Juden sagen, ein “Mensch”.

Haffner wurde am 27. Dezember 1907 in Berlin geboren. Mein Großvater Adolf war an diesem Tag 24 Jahre alt. Im Februar 1912 bekam Adolf seinen Meisterbrief als Fleischermeister. Mein Vater Heinz wurde 1913, sechs Jahre nach Haffner, in Dortmund-Lindenhorst geboren.
Haffner und mein Großvater haben also den 1. Weltkrieg durchlebt, Haffner als junger Berliner Bursche, Adolf als Frontsoldat in Frankreich. Den Aufstieg der Nazis haben sie alle drei erfahren. Mein Vater war 1933 20 Jahre alt, mein Großvater 50. Genaues weiß ich sehr wenig über ihre Gefühle zu dieser Zeit. Nur dank Haffner kann ich es nun nachfühlen.
Meine Großeltern Julia und Adolf Löwenhardt haben 1912 geheiratet, wenige Monate nach der Meisterprüfung. Sie hatten eine Metzgerei, so wie auch ihre beiden Eltern. Julias Vater Isaak war Metzger und Viehhändler in Denekamp, Holland. Adolfs Vater Levi betrieb beide Berufe in Oberhemer im Sauerland. Nebenan an der Lindenhorster Straße lebten und arbeiteten Julias Onkel Hermann Kleeblatt und seine Familie. Er hatte ein Kolonialwarengeschäft. Die Nachbarfamilien waren nicht nur Mischpoke, sie waren auch sehr gut befreundet. Hermann Kleeblatt hatte höchst wahrscheinlich meine Großeltern miteinander bekannt gemacht. Und auch mein Vater wurde Metzger, er machte seine Meisterprüfung am 24. April 1935 in Dortmund. Und flüchtete anschließend nach Holland.
Bis Sommer 1936 wohnten die Großeltern in Dortmund. Sie hatten beide ihre Sidurim – Gebetbücher – , aber waren, so weit ich weiß, nicht oft in der Synagoge. Die Sidurim sind heute in meinem Besitz, Julia und Adolf hab’ ich aber nicht mehr kennen gelernt. Leider nicht. Im Oktober 1944, an Adolfs 61. Geburtstag wurden sie in Theresienstadt in den Zug nach Auschwitz gezwungen. Fast drei Jahre später wurde ich in Holland geboren. Meine Großmutter Julia und meine Mutter, beide waren sie holländische Jüdinnen, mein Großvater und Vater waren beide deutsche Juden.

Adolf Löwenhardt kam aus einer sauerländischen jüdischen Familie, die Deutschland im 1. Weltkrieg insgesamt neun Frontsoldaten ‘lieferte’. Von den neun Löwenhardt Brüdern wurden 1942-1944 sechs von Deutschen ermordet. Großvater Adolf hat es (das unaussprechliche; das undenkbare; das unvorstellbare), wie ich denke, nicht glauben können, bis er selbst in Theresienstadt litt. Er war Kriegsverwundeter und ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz. Er fühlte sich als Deutscher unter Deutschen. In diesem Sinne bildete er unter jüdischen Veteranen seiner Generation keine Ausnahme.
Im April 1943 war er mit meiner Großmutter im ersten Theresienstadt-Transport der das Durchgangslager Westerbork in Holland verließ. Alle Männer in diesem Zug waren nach Holland geflüchtete deutsch-jüdische Kriegsveteranen mit ihren Familien. Es war ein fast feierlicher Transport. Vom Lager Westerbork zuerst nach Amsterdam, wo man eine Nacht noch in Freiheit verbringen konnte. Am nächsten Morgen um 7 haben alle sich brav am Bahnhof gemeldet. Bestätigung der Selbsttäuschung.
– – – –
Wir sprechen von einer Zeit, als der Teufel herrschte über Deutschland und Europa. Als er, der Teufel, Antisemitismus zu seinem Werkzeug machte. Der Antisemitismus ist nicht unser Problem sondern das Problem der Nicht-Juden. Für uns Juden gibt es in der heutigen Zeit ein anderes Problem.
Mit sechs Millionen Opfern können wir schon sagen dass wir uns dem Antisemitismus als eine besonders bösartige Form des Rassismus stellen sollten. Und das hat Konsequenzen. Die Thora und die Geschichte verpflichten uns zur Solidarität mit, zur Aufnahme von und zur Hilfe für Flüchtlinge. Die meisten dieser Flüchtlinge in den vergangenen Jahren waren Muslime aus dem Nahen Osten. Sie flohen vor dem Terror muslimischer Herrscher.
Antisemitismus hat es in Europa immer gegeben – und gibt es noch immer. Neu am heutigen Antisemitismus ist jedoch, dass er vor allem von muslimischen Staaten im Nahen Osten und im Maghreb propagiert wird. Antisemitische Propaganda vergiftet das Denken von vielen Jugendlichen marokkanischer und türkischer Herkunft, die in Deutschland und bei uns in Holland aufwachsen. Diese Jugendlichen genießen völligen Rechtsschutz, Sozialleistungen und Menschenrechte.
Oft ist dieser Antisemitismus verkleidet als Israelkritik. Begründet ist sie in einer fast systematischen Geschichtsfälschung in Sachen des Ursprung und der Geschichte Israels. Elementare Fakten der Geschichte werden einfach gefälscht. Muslimische Jugendliche sind dafür sehr empfänglich. Für die Lehrer in unseren Schulen ist es keine leichte Aufgabe, diese Fälschungen zu korrigieren. Aus der Hitlerzeit haben wir gelernt: gegen zielsichere Propaganda haben es Fakten schwer.
Die Gegenmittel sind nicht leicht – aber es gibt sie, und es ist unsere Verantwortung, sie zu nützen: Bildung, Erklärung, KZ-Besuche, Diskussionen, Auseinandersetzungen. Man braucht viel, sehr viel Geduld und Ausdauer. Enttarnung der Propaganda bleibt aber ohne Wirkung, wenn wir nicht all jenen, die wirklich verfolgt sind, helfen – auch Muslimen. Und wir müssen uns völlig bewusst darüber sein. Es gibt, jedenfalls in Holland, eine kleine Anzahl von Fällen, die beweisen, dass in der Bekämpfung des Antisemitismus bei Jugendlichen Erfolg tatsächlich möglich ist.
Sebastian Haffner legt Zeugnis davon ab, wie er selber und viele Deutsche seit dem Januar 1933 ihre Zuflucht ins Alltägliche suchten. Die Zeitungszeilen zu grausam und erschreckend, die Zwangslage (Kollaboration; Widerstand; oder Flucht) zum Verzweifeln schwierig. Solch ein Vogel-Strauß-Verhalten können wir, europäische Juden, uns heute nicht leisten.
Ich danke ihnen.
Leave a Reply